
In einer anderen Examensprüfung zum Thema Spieltheorie wollte der Dozent nicht nur Formeln wissen, sondern fragte seine Prüflinge sogar: «Was halten Sie von einer Regierung, welche mit exzessivem Einsatz von Tränengas friedlich schlafende Demonstranten aus ihren Zelten jagt, selbst wenn es den Protestierenden nur um den Schutz einiger Bäume geht?» Die Examensaufgabe enthielt zudem den Hinweis, dass die türkische Verfassung friedliche Demonstrationen erlaubt und es für solche Kundgebungen nicht einmal eine Genehmigung braucht.
Prüfungsfrei wegen Protest
Diese und andere Examensbeispiele kursieren auf Twitter und Facebook. Sie zeigen, dass nicht nur Studierende, sondern auch Dozenten am gegenwärtigen Protest teilnehmen. Seit die Polizei Ende Mai in Istanbul Umweltaktivisten aus dem Gezi-Park mit Tränengas vertrieb, gehen Hunderttausende auf die Strasse. Sie protestieren gegen Polizeigewalt, gegen die Politik von Premier Recep Tayyip Erdogan und seiner Partei, gegen autoritären Führungsstil, Korruption und eine befürchtete Islamisierung des Landes. Andere Demonstranten hingegen unterstützen die Regierung.
Die ideologische Spaltung der Bevölkerung zeigt sich auch in der akademischen Landschaft. An manchen Universitäten schimpfen die Dozenten über protestierende Studierende. Andere Hochschulen verurteilen hingegen die harten Polizeieinsätze, in Istanbul beispielsweise die Koç Universität, die Bahçeşehir Universität und die Galatasaray Universität. Dort wurden die Examenstermine aus Rücksicht auf die Demonstranten verschoben und als Entschuldigung fürs Fernbleiben wurden Fotos akzeptiert, auf denen die Studierenden beim Demonstrieren zu sehen sind.
«Alle meine Dozenten unterstützen den Protest», berichtet Uǧur Öztürk, der in Istanbul an der Yeditepe Universität Politik studiert. «Zwei meiner Professoren haben mich sogar vor Verletzungen durch die Polizei beschützt, indem sie sich in der Kampfzone vor mich gestellt haben.»
Unabhängige Forschung in Gefahr
«An den Universitäten gibt es ein sehr starkes Erdogan-kritisches Lager», erklärt Tobias Heinzelmann, Islamwissenschafter am Asien-Orient-Institut der Universität Zürich. Unter den türkischen Professoren regt sich schon länger Widerstand. Dieser hat sich verstärkt, seitdem die Turkish Academy of Science (TÜBA), eine staatliche Forschungsinstitution mit Sitz in Ankara, von der Regierung vereinnahmt worden ist. Früher wurden ihre Mitglieder demokratisch gewählt. Im Jahr 2011 hat die Regierung dann begonnen, zwei Drittel der Mitglieder zu bestimmen und das Amt des Präsidenten zu vergeben.
74 der 137 ursprünglichen Mitglieder der TÜBA gaben daraufhin ihren Rücktritt bekannt und gründeten die Independent Science Academy, als Gegenpol zur von Erdogan vereinnahmten TÜBA. Die Forscher sehen die Unabhängigkeit der Wissenschaft in Gefahr. Zu Recht: 2009 verbot der türkische Wissenschafts- und Technologieforschungsrat die Publikation eines Heftes zum Thema Evolution. Eine Sommerschule für 2013 zum gleichen Thema wurde nicht genehmigt. Anfragen von NZZ Campus zu diesem Thema blieben unbeantwortet.
Jagd auf Demonstranten
«Die Erdogan-Regierung möchte die Gesellschaft transformieren», sagt Ilhan Uzgel von der Universität Ankara. Der Professor für Politik analysiert seit Jahren Erdogans Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP). «Die AKP will die Institutionen des Landes erobern. Dazu bringt sie ihre Leute nicht nur in die TÜBA, sondern installiert ihre Getreuen auch an den Unis.»
Heinzelmann berichtet von den Folgen: «In wissenschaftlichen Diskussionsgruppen gibt es auch vehemente Fürsprecher Erdogans.» Zu zweifelhaftem Ruhm gelangte Ahmet Atan, Leiter des Kunst-Instituts an der Yildiz Teknik Universität in Istanbul. In diversen Tweets hat er die momentan stattfindenden Proteste mit den jüdischen, griechischen oder armenischen Wurzeln einiger Protestierender erklärt. Nachdem Zeitungen wie die etablierte Hürriyet kritisch darüber berichteten, löschte Atan seine Tweets.
Einige Studierende, die Erdogan‘s Politik nahe stehen, organisieren sich in Gruppen und machen Jagd auf die Demonstranten. «Sie rufen ‹Allah ist gross› und attaktieren uns Protestierende mit Messern oder Holzknüppeln», berichtet der Student Öztürk. «Wir können nicht beweisen, dass die Jugendpartei der AKP daran beteiligt ist, aber jeder weiss es. Wir kennen diese Leute. Die Polizei müsste uns Bürger vor diesen Angriffen schützen, aber sie steht nur daneben und schaut zu.»
Facebook säubern für den Master
Welche Konsequenzen hat das für die Studierenden? Das Leben an der Universität wird zumindest nicht einfacher. So berichtet die Journalistin Ayşe Arman von ihrer Assistentin, die an der Marmara-Universität ein Masterstudium beginnen wollte. Im Vorstellungsgespräch wies der Professor sie darauf hin, dass sie alle Einträge bei Facebook löschen müsse, die sich auf die Proteste beziehen. Sonst müsse sie sich an einer anderen Hochschule bewerben.
Viele Professoren ziehen ihr Prüfungsprogramm unbeeindruckt von den Demonstrationen durch. Studierende finden aber Wege, sich das nicht gefallen zu lassen.
Zu ihnen gehört Seçil Aydın. Die Studentin an der Bahçeşehir Universität in Istanbul folgt einem Trend, der sich unter den protestierenden Studierenden verbreitet hat: In die Prüfung gehen, aber nichts aufs Prüfungsblatt schreiben. Oder, im Gegenteil, sich die Wut vom Leibe zu schreiben und die ganze Welt daran teilhaben zu lassen.
Aydın wählte den zweiten Weg. Auf Twitter kann jeder lesen, was sie auf ihre Prüfungsfragen antwortete: «Ich habe nur vier Prüfungen, um mein Uni-Jahr zu bestehen. Ich werde sicher durchfallen. In den letzten drei Tagen habe ich zu hart für eine andere Prüfung gearbeitet, mit den Menschen, deren Herzen im Einklang mit meinem schlagen.» Und weiter: «Ich kann nicht mehr schreiben. Meine Augen schmerzen vom Tränengas, und vor lauter Müdigkeit kann ich den Stift kaum noch halten. Aber ich habe Kraft, zu widerstehen. Und ich widerstehe. Weil mein Land widersteht. Ich bitte um Verständnis.»
Verschobene Examen, regimekritische Dozenten, Examen mit Protestbezug - Premier Erdogan hat das Verhalten einiger Universitäten verurteilt, denn sie würden Studierende zum Demonstrieren ermutigen. Der aufmüpfige Dozent der statistischen Physik braucht sich nicht angesprochen zu fühlen. Denn der fragte in seiner Prüfung nach einer autokratischen Regierung. Und die Türkei ist offiziell eine Demokratie - auch wenn derzeit heftige Zweifel daran aufkommen.
Dieser Artikel wurde uns von Matthias Hamann zugeschickt. Er wurde veröffentlicht auf der Website der Neuen Zürcher Zeitung (http://campus.nzz.ch/politik/protest-im-pruefungssaal)
Dieser Artikel wurde uns von Matthias Hamann zugeschickt. Er wurde veröffentlicht auf der Website der Neuen Zürcher Zeitung (http://campus.nzz.ch/politik/protest-im-pruefungssaal)
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